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Wo bleibt der Novemberblues?

Es ist schon Mitte November und eigentlich sollte ich seit mindestens einem Monat in Weihnachtsstimmung sein, Plätzchen und Lebkuchen essen, Tee trinken, Strumpfhosen unten drunter tragen und immer einen Regenschirm dabei haben. Und auch wenn ich das alles sehr vermisse und ich mich schon auf den matschigen, schietigen Herbst 2018 in meinem rauen Norddeutschland freue, genieße ich meine Zeit hier, seit ich mein Tief vor eineinhalb Monaten überwinden konnte, sehr. Dieses Jahr gibt es Bananenpankaces mit selbstgemachter Erdnussbutter, gebratene Kochbananen mit pikanter Erdnusssoße, die leckersten Ananas, Wassermelonen und Grapefruits anstatt Weihnachtsgebäck und heiße Zitrone anstatt Rooibostee. Irgendwie hat sich ein richtig schöner Alltag entwickelt und dabei finden sich viele Möglichkeiten Kamerun auf meine eigene Art kennen zu lernen. Heute möchte ich einfach ein bisschen berichten. Inzwischen schätze ich es sehr, Einkäufe bei meinen Händlerinnen und Händlern auf dem Markt zu erledigen. Es bringt Spaß, mit den Leuten zu feilschen oder nur auf dem Nachhauseweg für ein Pläuschchen vorbei zu kommen. Treue wird außerdem belohnt: Während ich bei unserem Eiermann anfangs für 500 Francs (ca. 76 ct) noch fünf Eier bekam, so sind es inzwischen acht. Meine Bananenfrau legt immer noch zwei Bananen mehr in meine Tüte als ich gekauft habe, unsere Gemüsefrau sucht immer die schönsten Tomaten für uns aus und meine liebe Avocadohändlerin Aisha steckt mir manchmal noch eine kleine Avocado extra zu. Diese Gesten freuen mich insbesondere so sehr, da uns auf den Märkten oft überhöhte Preise genannt werden. Nicht selten sagen die Leute uns sogar ins Gesicht, dass sie das mit unserer Hautfarbe begründen. So ein Treuebonus ist da ein schöner Vertrauensbeweis und man fühlt sich irgendwie integrierter. Am späten Nachmittag gehen Maria, mein Kollege Pascal und ich öfter in den Parcours Vita, einem großen Sportpark im Viertel Bonamoussadi. Ich war erstaunt, als wir dort zum ersten Mal hingefahren sind. Der Park erstreckt sich über ein riesiges Gelände mit Fußball- und Basketballkäfigen, Fitnessräumen, Sportgeräten und einer dreieinhalb Kilometer langen, wunderschönen Laufstrecke durch den dschungelartigen Park. Am höchsten Punkt dieser Strecke hat man an klaren Tagen sogar einen beeindruckenden Blick auf den Mount Cameroon, den höchsten Berg Westafrikas. Den Park können theoretisch alle nutzen. Er ist immer geöffnet und viele Geräte sind kostenlos nutzbar. Jeden Tag gibt geleitete Fitnesskurse, für die man nicht bezahlen muss. Für manche, zum Beispiel Step Aerobic oder einen Mix aus einem traditionellen Tanz und Fitnesselementen, der live von zwei Trommlern begleitet wird, zahlt man jedoch einen kleinen Mitgliedsbeitrag. Ich gehe unglaublich gerne dahin, denn die Stimmung ist immer gut, man lernt ständig neue Leute kennen, kommt mal raus und vor allem in Bewegung. Außerdem tut es gut, wenn man nach einem viel zu heißen Tag vom Nieselregen, der abends oft noch einsetzt, beim Sport ein bisschen runtergekühlt wird. Es sind die kleinen Dinge im Leben. Bald wird es jedoch mit dieser Erfrischung vorbei sein, denn die Trockenzeit rückt immer näher, wenn auch in diesem Jahr ungewöhnlich langsam. Obwohl die Regenzeit schon längst vorbei sein sollte, gewittert es hier nachts noch immer regelmäßig so stark, dass man senkrecht im Bett sitzt und in der Nachbarschaft die Alarmanlagen parkender Autos durch die Erschütterung anspringen.

Reisen Durch den nachlassenden Regen und unsere anhaltende gute Gesundheit ergeben sich immer mehr Möglichkeiten etwas zu unternehmen, zum Beispiel zu verreisen. Am letzten Oktoberwochenende haben Maria und ich etwa unseren Mitfreiwilligen Ruben in Mbouo, einem kleinen Dorf nahe der Stadt Bafoussam besucht. Allein die Fahrt dahin war ein Erlebnis. Wir entschieden uns den Nachtbus zu nehmen. Der fuhr um ein Uhr nachts (die hier üblichen drei Stunden später als geplant) los und selbst dann brauchte der Bus sogar zu dieser Uhrzeit noch über eine Stunde um die Stadt zu verlassen, da sich Doualas Staus offenbar nie auflösen. An ernsthaften Schlaf war während der Fahrt nicht wirklich zu denken, da ich unter dem Radiolautsprecher saß. Wenn ich dann schlief, haben mich die Schlaglöcher wieder geweckt. Ich dachte, mich könnten Schlaglöcher nicht mehr überraschen, doch ich wurde von der ernsthaften Angst, dass der Bus umkippt, eines besseren belehrt. Als ich den Freiwilligen aus dem Anglophonen Teil davon erzählte, haben sie nur gelacht, denn das, was wir Frankophonen Schlaglöcher nennen, sei noch gar nichts. Ich bin gespannt. Als wir nach 250 km und ganzen sieben Stunden Fahrt am Samstagmorgen im für uns inzwischen unfassbar kalten (um die 20°C) Mbouo ankamen, waren wir einfach nur froh, nicht mehr sitzen zu müssen. Nach einem kleinen Erholungsschläfchen haben wir mit Ruben, einem seiner Kollegen und seinem Mitbewohner, der auch einen Freiwilligendienst macht, die Gegend ein bisschen erkundet. Mbouo ist auf knapp 1500 m Höhe gelegen und man hat einen weiten Blick über das hügelige Hochland mit seinen schönen Wäldern und viel Landwirtschaft. Wir waren an einem kleinen Wasserfall, der ganz versteckt zwischen hohem Bambus, dichten Sträuchern und Palmen lag, haben exotische Früchte, deren Namen ich nicht kenne gegessen, viele bunte kleine Paradiesvögel gesehen und hatten unsere erste Begegnung mit einer Schlange. Eine sehr giftige grüne Mamba, die aber leider schon tot war, denn sie wurde etliche Male auf dem Weg überfahren. In der Gegend sieht man überall spitze, pyramidenförmige Dächer, die aus den Bäumen hervorstechen. Diese Dächer gelten als Erkennungszeichen, dass dies Häuser der Honnêtables, der Berater des Königs dieser Region sind, die sich beispielsweise bei Projekten einbringen, die die Dörfer voranbringen sollen. Man kann anscheinend schon Honnêtable werden, wenn man nur männlich ist und bei einem Besuch beim König von diesem eingeladen wird, beim Essen mit an seinem Tisch zu sitzen. Während ihre Mitbewohnerin an einem anderen Tisch essen musste, ist Ruben und seinem Mitbewohner genau dies geschehen als die drei sich als die neuen Freiwilligen dem König bei einer Audienz vorstellten. Damit dürften Ruben und sein Mitbewohner sich jetzt auch ein spitzes Dach auf die Wohnung setzen und den König beraten. Allerdings ist es nicht gestattet, dem König zu widersprechen. Wenn der König eine Aussage macht ist es üblich, begeistert zu klatschen, auch wenn man eigentlich gar nicht seiner Meinung ist. Leider konnte ich die so vielfältige Natur, die Idylle, die Ruhe und das Landleben, das sich so vom Alltag im wuseligen Douala unterscheidet, bis auf den Samstagnachmittag und -abend nicht so genießen, wie ich es mir gewünscht hatte. Schuld daran war das Essen von einem Straßenstand, dass wir abends in Bafoussam gegessen haben und welches mir eine Lebensmittelvergiftung, die ich so schnell nicht vergessen werde und ein paar Tage Krankenhaus beschert hat. Das hört sich wesentlich unglücklicher an, als es war, denn als das Schlimmste überstanden war, war ich ganz entspannt und habe meine Entwicklungsland-Klischee-Krankenhaus-Erfahrung mit Humor genommen. Wann kommt es in Europa schon vor, dass man seine Bettwäsche, sein Essen, sein Klopapier und seine Nachtschwester selbst mitbringen muss? So kam es, dass Ruben und Maria abwechselnd bei mir geschlafen haben, um aufzupassen falls mir nachts etwas passiert. Tagsüber hatte ich eigentlich immer Besuch von den anderen Freiwilligen, Mitarbeitern aus Rubens Einsatzstelle oder meinen Zimmernachbarn und deren Angehörigen, sodass ich fast schon zu wenig Langeweile hatte. Die Hygiene waren zwar meist abenteuerlich, doch ich fühlte mich dort trotzdem gut aufgehoben. Vor allem die Krankenschwestern waren einmalig. Die meisten sehr lieb, doch einer bestimmten wurde von Rubens Freiwilligen-WG zu Recht der Name Schwester Rabiata gegeben.

Auch wenn der Krankenhausaufenthalt durchaus unterhaltsam war, war ich doch heilfroh, am folgenden Dienstagabend entlassen zu werden und Mittwochmorgen, wieder drei Stunden später als ursprünglich vom Busunternehmen angegeben, mit Maria nach Douala zurückzureisen. Auf dieser Rückfahrt wurde uns erst bewusst, wie wunderschön und vielseitig dieses Land ist – da fehlen mir wirklich die Worte. Ich wusste nur, dass ich mehr davon sehen und bereisen will. Also setzten wir zwei uns am vergangenen Samstag in ein Sammeltaxi und machten einen Tagesausflug in die kleine Stadt Limbe an der Atlantikküste, wo wir uns im märchenhaften Botanischen Garten von Moskitos zerstechen ließen, mit den Füßen in der viel zu warmen Brandung planschten, mit einem winzigen Holzboot in der Bucht gefahren sind und uns den ersten richtigen Sonnenbrand geholt haben. Es war ein wunderschöner Tag.

La veille In Deutschland habe ich bisher an zwei Beerdigungen teilgenommen. Es waren sehr schöne Beerdigungen, sie waren ruhig, leise und besinnlich. Vor ein paar Wochen ist ein guter Freund meines Kollegen Alexis im Alter von 42 Jahren an einer lang anhaltenden Krankheit verstorben und am Freitag begleiteten Maria und ich Alexis und seinen Bruder Martin zur Totenwache dieses Freundes. In vielen Situationen fällt auf, wie wirklich strenges Christentum mit den uralten Traditionen vermischt wird, so auch bei dieser Totenwache, der „veille“, die traditionell immer an einem Freitagabend stattfindet. In dem Viertel des Verstorbenen wurden auf der Straße zwei große Zelte mit vielen Stühlen für die Besucher aufgebaut, in der Mitte stand ein Podium, von dem aus eine Messe auf Englisch und Französisch gehalten wurde, durch das Mikro war sie für alle sehr laut hörbar. In einer kleinen beleuchteten und mit Blumen geschmückten Hütte war der Verstorbene aufgebahrt und alle, die mochten, konnten nach der Messe zu ihm gehen und Abschied nehmen, bevor es viel zu süßen Kaffee und gefüllte Brote gab. Im Gegensatz zu Maria bin ich nicht zu ihm gegangen, es wäre mir falsch vorgekommen, da ich ihn zu Lebzeiten nicht kannte. Maria erzählte mir danach, dass die Leute gar nicht wirklich bei ihm innegehalten haben. Sie sind in einer langen Schlange nur einmal um den Sarg herumgegangen und hat den Raum danach direkt wieder verlassen. Die Witwe des Verstorbenen muss während der gesamten Totenwache neben der Leiche ihres Mannes sitzen bleiben. Das gleiche gilt für Witwer, wenn diese ihre Frau verloren haben, doch bei ihnen wird wohl nicht so streng aufs Einhalten dieser Regel geachtet. Leider finden in Verbindung mit der Beerdigung eines verheirateten Mannes oft sogenannte Witwenrituale statt. Nicht selten wird die verbleibende Witwe hierbei physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt. Angeblich um sie vor bösen Geistern zu schützen oder um ihr böse Geister auszutreiben, vor allem wenn sie mit dem Tod ihres Mannes in Verbindung gebracht wird. In manchen Fällen wird sie später mit einem anderen Mann aus der Familie ihres verstorbenen Ehemannes neu verheiratet. Schon während dieses ersten Teils der Totenwache fiel auf, wie gelöst die Stimmung eigentlich war und welche Leichtigkeit sie irgendwie ausstrahlte. Die Leute lachten miteinander, tauschten sich aus und in den Pausen lief immer laut fröhliche Musik. Es war inzwischen Nacht geworden, als der zweite, der traditionelle Teil begann. Er bestand eigentlich daraus, dass auf dem Podium zwischen den beiden Zelten eine Gruppe aus Frauen und Männern auftrat, die zur Animation der Gäste traditionelle Tänze aufführte und diese mit großen Trommeln und Gesängen begleitete. Wenn die Stimmung gut ist, feiert man so nicht selten bis in die frühen Morgenstunden. Am darauf folgenden Samstag findet die Beerdigung statt und neun Tage danach, bei der „Novaine“, die also immer an einem Montag erfolgt, kommen die engsten Angehörigen noch einmal zusammen und rasieren sich in der Regel zu Ehren des Toten gemeinsam die Haare ab. Während die Männer sich dabei wirklich kahl rasieren beschränken sich viele Frauen auf eine kleine Stelle im Nacken. Es ist inzwischen schon lange her, dass ich zum letzten Mal Heimweh hatte und das ist ein gutes Zeichen. Auch wenn ich mich freue, einmal wieder nach Deutschland zurückzukehren, so entwickelt sich unser Viertel langsam zu einem temporären Zuhause. Wenn das Vermissen dann doch mal Überhand gewinnt, dann kann ich immer zum riesigen Spar im schicken Viertel Bonanjo fahren und mir Käse (eine Rarität) und Kinderschokolade kaufen. Und manchmal wartet bei der Post ein Paket mit Überraschungen aus Deutschland auf mich.


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