Rolling Stones
Ich liebe die Berge und mag Herausforderungen. Und ich setzte mir schon vor längerer Zeit das Ziel, einmal einen Berg mit einer Höhe von mehr als 4000 Metern zu besteigen. Es war für mich am wahrscheinlichsten, dass es irgendein Berg in der Schweiz sein würde und dass dieses Abenteuer in ferner Zukunft liegen würde. Doch mit der Zusage für diesen Freiwilligendienst hier in Kamerun und den Erzählungen der Freiwilligen, die schon einmal hier waren, lag dieses Ziel auf einmal greifbar nahe: Ich erfuhr von der Existenz des Mount Cameroon, einem heiligen Berg, der von den Stämmen der Gegend auch Fako genannt wird. Er ist ein aktiver Vulkan in der Achselhöhle des Golfs von Guinea und mit 4100 Höhenmetern der höchste Berg Westafrikas. Und vorgestern stand ich auf seinem Gipfel. Am frühen Morgen des dritten Advent fuhren Maria, unsere Nachbarin Christiane und ich nach Buea. Von hier aus wollten wir auf einer Höhe von 1005m mit unserem Guide Pierre von der Sarah Etonge Foundation und zwei seiner Kollegen, Prince und Yannick, in einem Viertel voller alter deutscher Kolonialbauten unsere Tour zum Gipfel starten. Auf unserem Weg bergauf kamen wir an Feldern vorbei, auf denen Gefängnisinsassen arbeiten, die kurz vorm Ende ihrer Haftstrafe stehen und so resozialisiert und wieder an den Arbeitsalltag gewöhnt werden sollen. Es ging steil bergauf und hinein in den immer tiefer werdenden Dschungel. Ein bisschen fühlte man sich wie in einem deutschen Herbstwald, denn es kühlte sich mit jedem Höhenmeter etwas mehr ab und unter den Füßen raschelte das Laub. Nur die vielen Lianen, haushohen Farne, mehrere Meter dicken Baumstämme sowie das Laute Zirpen der Grillen passten nicht wirklich ins Bild. Und dass wir einmal rennen mussten, denn ein mehrere Meter langer Wegabschnitt war mit Ameisen bedeckt, von denen niemand gerne gebissen werden möchte. Unser Weg führte uns an vielen schönen Schmetterlingen vorbei, über umgekippte Bäume und durch trockene Bäche.
Nach drei oder vier Stunden erreichten wir die Baumgrenze. Vor uns öffnete sich eine Savannenlandschaft mit meterhohen trockenen Gräsern und nur noch vereinzelten knorrigen Baumskeletten. Ich fühlte mich fast ein bisschen zu Hause denn die Umgebung erinnerte an die Dünen an Nord- und Ostsee. Alles um uns herum war bis auf vereinzelte Vogelstimmen so leise, dass ich mich, wenn ich allein gewesen wäre wahrscheinlich gegruselt hätte. Manchmal hörte man nicht einmal mehr den Wind, der die Wolken in dünnen Schwaden vom Wald den Berg hinauf wehte. Trotz der Schönheit um uns herum wurde der Anstieg immer härter. Der Hang, den wir hinaufstiegen war sehr steil und der Weg übersäht mit Geröll aus Vulkangestein, sodass ich schon in dem Moment lieber nicht an den Abstieg denken mochte. Als ich schon beinahe davon überzeugt war, dass mein Körper gleich kapitulieren würde, erreichten wir endlich die Hütte in 2800 Metern Höhe, bei der wir zelten wollten. Mit Einbruch der Dunkelheit verzogen sich die Wolken und legten einen wunderschönen Blick auf den Sternenhimmel und die Lichter Bueas frei. Da die meisten Investoren Angst vor den Eruptionen des Vulkans haben, gibt es, außer Landwirtschaft, kaum Industrie in Buea und damit auch, anders als in Douala, kaum Smog. Allerdings wurde es als die Sonne weg war eiskalt. Zunächst konnten wir uns noch am Feuer, über dem Yannick Kochbananen mit Gemüsesoße kochte, aufwärmen, doch später im Zelt lagen Christiane, Maria und ich zitternd nebeneinander und an Schlaf war trotz der Anstrengung des Tages kaum zu denken. Zusätzlich bekam Maria in der Nacht gesundheitliche Probleme, weshalb sie am nächsten Tag von Yannick ins Tal gebracht wurde.
Als wir die Nacht dann doch irgendwie überstanden hatten, ging es für Pierre, Christiane und mich früh morgens weiter in Richtung Gipfel. Obwohl der Anstieg nicht mehr ganz so steil war wie am Sonntag, merkte ich auf dieser Höhe schnell, wie dünn die Luft eigentlich ist. Ich fühlte mich zwar nicht müde und konnte auch gut atmen, doch meine Schritte wurden immer kleiner und immer langsamer. Umso deprimierender ist es dann, wenn man auf dem halben Weg zum Gipfel von einem joggenden Herrn um die 50 in Plastikbadeschuhen und Wollsocken in flottem Tempo überholt wird und der einem dann nach 45 Minuten schon wieder entgegen kommt, weil er schon beim Gipfel war und jetzt auf dem Weg nach Hause ist. Laut Pierre trainiert dieser Mann für den „Race of Hope“, einem Marathon vom Stadion in Buea zum Gipfel und wieder zurück. Pierres Mutter, Sarah Etonge, hat diesen Marathon sieben Mal gewonnen (das letzte Mal im Alter von 42 Jahren), obwohl sie bereits sechs Kinder zur Welt gebracht hatte. Nach unserer Rückkehr hatten wir das Glück, sie kennen zu lernen – sie ist eine wirklich beeindruckende Frau. Während sie für den kompletten Hin- und Rückweg nur 5 Stunden, 38 Minuten und 6 Sekunden braucht, hatten wir die letzte Etappe von 1300 Höhenmetern nach knapp fünf Stunden endlich hinter uns und um Punkt 12:00 Uhr stand ich auf dem Gipfel des Mount Cameroon. Es ist eine sehr beeindruckende Vorstellung, dass es in dem Moment in ganz Westafrika keinen mit dem Boden verbundenen Punkt gab, der höher war als mein Scheitel. Zu unserem Glück zeigte sich das Wetter auf dem Gipfel von seiner besten Seite. Es war nicht sehr windig, die Wolken hingen weit unter uns und die Temperaturen waren beinahe mild. Vom Gipfel hatte man einen weiten Blick auf die von Flechten und anspruchslosen Blumen übersäten Hänge des Vulkans und auf die Kraterfelder an seiner Nordseite. Der Fako ist nämlich kein Bilderbuchvulkan mit einem großen Krater am Gipfel sondern hat viele kleiner Krater, die alle etwas tiefer gelegen sind. Prince erzählte mir später von der letzten Eruption im Jahr 2000. Man konnte die Lavaströme vom Buea aus sehen und viele Leute sind auf den Berg gestiegen, um sich das aus der Nähe anzuschauen. Er selbst war damals allerdings noch zu klein, man konnte merken, wie sehr ihn das ärgert.
Der Abstieg ging wie erwartet viel schneller, dafür verlangt er einem wesentlich mehr Konzentration ab und ging ordentlich auf die Knie. Wir waren nach gut drei Stunden bei der Hütte, bei der wir die Nacht verbracht hatten, um eine Pause einzulegen und Prince abzuholen, der dort für uns Mittagessen gekocht hatte (Kartoffeln mit Gemüsesoße). Die letzte Etappe gestaltete sich als wirklich heftig. Ab 18:30 Uhr ist es hier dunkel und wir hatten noch 1000 Höhenmeter vor uns, denn wir wollten in einer Ecoguard-Hütte im Dschungel die Nacht verbringen. Christiane und Pierre sind vorausgegangen, da sie ihren Rucksack nicht selbst trug und ihre Knie dadurch noch besser mitarbeiteten als meine. Prince und ich kamen leider nicht so gut voran. Der steile Hang, das viele Geröll auf dem Weg und meine Knie haben uns extrem ausgebremst. Ich habe aufgehört zu zählen aber Prince meinte, dass ich bestimmt 15 Mal auf den rollenden Steinen weggerutscht und hingefallen wäre, er nur zweimal. Dabei war er die ganze Zeit barfuß in roten Adiletten. Als wir die Baumgrenze erreichten war es stockdunkel. Prince wechselte zu goldenen Schnürstiefeln und ich holte eine Taschenlampe mit Dynamo zum kurbeln raus, die so viel Krach machte, dass sich weit und breit bestimmt kein menschenfressendes Ungeheuer mehr aus seinem Versteck getraut hätte. Dafür flatterte auf einem Großteil des Weges ein Nachtfalter im Lichtkegel der Lampe, während ich hinter Prince herstolperte, als hätte ich gerade erst laufen gelernt. Doch auch wir kamen an, auf uns warteten neben Christiane und Pierre auf dem Feuer erwärmtes Waschwasser (Das war das erste Mal, dass ich mich in Kamerun mit warmem Wasser waschen konnte), Tee, Brote mit Schoko-Erdnusscreme und richtige Betten mit Matratzen. Am nächsten Morgen ärgerte ich mich sehr schnell über meinen komatösen Schlaf, denn wir hatten in der Nacht Besuch von einer Gorillafamilie. Neben der Hütte gibt es eine Wasserstelle, zu der die Gorillas wahrscheinlich zum Trinken gekommen sind. Als Pierre von ihren Geräuschen aufwachte saßen sie auf der Lichtung vor der Hütte. Er vermutet, dass sie von unserem Geruch neugierig geworden sind und uns imponieren oder Angst machen wollten. Ich habe von all dem nichts mitbekommen.
Die letzte Etappe am nächsten Morgen war nicht mehr lang und es ging auch nicht mehr ganz so steil bergab. Wir kamen zur Mittagszeit an unserem Ausgangspunkt in Buea an und bevor es weiter in Richtung Douala ging holten wir eine gut erholte und total glücklich strahlende Maria ab. Sie konnte bei Yannicks Familie übernachten, wo es sehr liebe Menschen, ein zahmes Schwein und eine Tischtennisplatte gab und sie war ganz begeistert von der Stadt. Unsere Tour war anders als erwartet, doch nicht unbedingt negativ. Der Aufstieg war anstrengend, kräftezehrend und ging nur langsam voran, während der Abstieg schneller ging dafür aber schmerzhaft war. Es war noch viel härter, es gab viel mehr Hürden aber es war auch viel schöner, als ich mir diese Herausforderung vorgestellt habe. Der Mount Cameroon macht glücklich, stolz und süchtig. Versprochen. Fröhliche Weihnachten!